Worte von diesseits & jenseits der Schwelle
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El gran maestro corazónEs un abismo
(Alonso del Rio)
EIN Jahr ist es genau her, seitdem ich das letzte Mal etwas geschrieben habe. Anscheinend gab es Wichtigeres zu tun. 😊 Davon möchte ich euch heute ein wenig erzählen. Ich freue mich, wenn ich diese Zeilen aus meinem Herzen schreiben darf und mir vorstelle, dass sie den Weg zu einem anderen Herzen finden.
Die folgenden Worte hab ich im Alten UND Neuen Jahr geschrieben:
Essence love
Die wohl wichtigste und tiefste Bewegung dieses Jahr war es, in etwas hineinzuwachsen, was mein tibetischer Lehrer „Essence Love“ nennt. Es ist ein Gefühl, das ich früher vielleicht mit Selbstliebe bezeichnet hätte. Aber die Bezeichnung trifft es nicht ganz. Bei Selbstliebe dachte ich daran, dass ich eines Tages vor dem Spiegel stehen müsste, um dann zu sagen: … „Manuel – du bist ein TOLLER Typ. Das hast du gut gemacht. Ich bin stolz auf dich!“
Aber Essence Love ist anders. Es ist viel stiller und unaufgeregter, und fast könnte man dieses Gefühl verpassen, wenn man nicht ganz achtsam ist. Es gleicht einem natürlichen, angeborenen Zustand von „Okay-Sein“, der sich anfühlt wie das subtile Leuchten einer kleinen Flamme, die uns wärmt und uns immer wieder zuflüstert: „Alles ist okay. Du bist OK. Einfach SO.“ – unabhängig von äußeren Umständen. Es ist eine grundlose Freude, die jenseits der sich ändernden Gefühle, Stimmungen und Gedanken liegt. Eine Freude und ein Wohlbefinden, die auch da sind, wenn man gerade traurig ist, emotionalen Schmerz empfindet oder mit Scham konfrontiert ist. Eine innere Lebendigkeit und eine Bereitschaft zu l(i)eben – und zwar 360 Grad – ohne dass es ein spezielles Objekt dafür bräuchte. EINFACH LIEBE.
Dieses Gefühl kam dieses Jahr so schleichend und unaufgeregt daher, wie eine lautlose Katze auf samtweichen Pfoten. Ich kann nicht einmal sagen, was genau ich gemacht habe, um diesen Zustand durchblitzen zu sehen. Einmal weiß ich noch, dass ich im Bad bei der Körperpflege war und ich ganz plötzlich in jeder Zelle fühlte: „Schön, dass es mich gibt.“ So sehr, dass ich Tränen der Rührung in den Augen hatte. Meine schiere Präsenz hat mich bis in die Knochen berührt und mein Herz hat gestrahlt. Es hat eine Art Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit, die sich dann verstärkt einstellt, wenn man in die Wirklichkeit unterhalb des Denkens eintaucht und im offenen Raum seines Bewusstseins ruhen kann. So wie ein Baum, eine Pflanze oder ein Salamander einfach SIND und ganz organisch aus sich heraus leben – weil sie sich nicht selbst mental anzweifeln oder begrenzen können.
„Die Leute sagen, dass wir alle nach einem Sinn des Lebens suchen. Ich glaube nicht, dass es das ist, was wir wirklich suchen. Ich glaube, was wir suchen, ist eine Erfahrung des Lebendigseins, sodass unsere Lebenserfahrungen auf der rein physischen Ebene in unserem Innersten nachschwingen und wir die Lust, lebendig zu sein, tatsächlich empfinden.“
– Josef Campbell
DER ABGRUND IM HERZEN
Wo Licht ist, da ist auch Schatten. So bin ich dann in meinem jährlichen Urlaub in Arillas/Korfu nach über zweieinhalb wunderschönen Wochen meinen Dämonen begegnet – oder meinen „beautiful monsters“, wie Tsoknyi Rinpoche sie liebevoll nennt. Dieses eine spezielle Monster fühlt sich in mir an wie ein Abgrund im Herzen. Ein Druck oder Schmerz, der sich gleichzeitig wie eine nagende Leere den Weg durch die Seele beißt. Ein schwarzes Loch, das alles verschlingen möchte. Natürlich tut der Mensch alles, was er kann, um so etwas zu vermeiden. Denn wer will schon verschluckt werden und – „PUFF“ – einfach weg sein?! Meine üblichen Strategien, um die Begegnung mit diesem Monster zu vermeiden (wie z. B. Essen, Arbeit, Sex etc.), haben an diesem speziellen Tag – an dem ich ganz allein und fernab von anderen Menschen war – nicht funktioniert. Und so hat sich der Abgrund tief in mir aufgetan. Im Meer bekam ich dann aber eine wichtige Botschaft -> „Geh zu Sophia!“
Sophia ist eine Wassertherapeutin, von der ich wusste, dass sie in Arillas lebt, die ich aber noch nicht persönlich kennengelernt hatte. Bevor ich sie erreichen konnte, bekam ich jedoch von einer Freundin noch ein Lied, von dem sie dachte, dass es mir helfen könnte. Ihr dürft raten, wie das Lied hieß … „El Abismo / Der Abgrund“. 😊
Das wurde dann in den nächsten Tagen zu meinem Soundtrack.
Wassertherapie
In Sophias Garten steht ein kleiner Olivenhain. Ich sitze mit ihr in ihrem 36 Grad warmen Jacuzzi und bekomme einen Nasenclip aufgesetzt. Der Atem strömt jetzt nur noch durch meinen Mund ein und aus. Auf meinen Oberschenkeln habe ich schmale Schwimmhilfen, die meinem Körper etwas mehr Auftrieb geben. Dann schließe ich meine Augen und lege mich zurück. Sophia nimmt meinen Kopf sanft in ihre Hände und streichelt meine Wangen. Schon nach Sekunden breche ich das erste Mal in Tränen aus.
In den folgenden 90 Minuten bin ich wie ein kleines Baby … die meiste Zeit davon sogar unter Wasser. Sophia berührt mich sanft, summt für mich, macht Laute, bewegt mich im Wasser, lässt mich meinen Körper und Atem auf unterschiedliche Weise erleben, drückt mich immer wieder unter Wasser und lässt mich so eine Palette an Zuständen und Gefühlen erleben, die aus der frühen Zeit im Mutterleib oder rund um meine Geburt stammen. Insgesamt fühlt es sich an wie eine Reise, die ich an Intensität sonst nur von psychedelischen Erfahrungen her kenne. Und weil es mich so tief bewegt hat, mache ich bei Sophia im März 2025 den ersten Teil der Ausbildung in ihrer Methode „Aquagenesis“.
Zu viel Schönheit & Liebe kann auch schmerzen
Am Ende der Session hänge ich am Beckenrand und schaue in Richtung Olivenhain. Immer wieder lässt ein Herz-Schmerz, von dem ich keine Ahnung habe, woher er überhaupt kommt, mich zusammenziehen und meine Augen schließen.
Sophia sagt liebevoll, aber klar: „Don’t go there anymore. This is the old story your body is telling you. It tells you that it is too much for you to take. That was true for you when you were a baby. But now you are a grown man. A sensitive and vulnerable man. Your vulnerability is your strength. The world needs men like you. You can open yourself to life. You can take it in. Bit by bit. The water is the past … your life out there on the earth – that’s your present task and your future.”
In diesem Moment tut sich der Himmel auf, wie wenn es für mich orchestriert worden wäre, und die Sonne scheint durch die Äste der knorrigen Olivenbäume, die dem kargen griechischen Sommerwetter trotzen und jeden Winter immer und immer wieder diese lebensspendenden Früchte hervorbringen. Diese Schönheit trifft mich direkt im Herzen, und ich spüre plötzlich eine immense Freude darüber, am Leben zu sein … LEBEN zu SEIN. Eine Freude, die fast schon schmerzt, weil sie so viel ist.
Die Bereitschaft zu fühlen
Das ist einer der Schlüssel zu Essence Love -> die Bereitschaft, ALLE unsere Gefühle zu fühlen – allem voran unseren Schmerz. Dafür braucht es Mut und Offenheit. Mut, in diesen Abgrund zu springen, den wir normalerweise um jeden Preis vermeiden wollen. Dabei hilft nicht nur therapeutische Unterstützung, sondern auch eine Art spirituelle Praxis: die Begegnung mit etwas, das größer ist als unser kleines Ich und das genug Raum hat, all das zu beinhalten, vor dem wir sonst weglaufen, es unterdrücken, dagegen kämpfen, rationalisieren oder uns davon fortreißen lassen. Diese klare, lebendige, urteilsfreie, raumgleiche Offenheit ist die Basis für das, was die Buddhisten „loving kindness“ nennen. Diese Erfahrung ist eine der Grundlage für die Heilung unserer inneren Leere. Alle Ausweichmanöver hingegen, füttern unsere beautiful monsters und unsere hungrigen Geister.
Hand in Hand
So bin ich dieses Jahr immer wieder einmal zwischen dem Abgrund der Leere und Essence Love hin- und hergependelt. Aus dem Abgrund steigen nach und nach Dinge empor, die ich Stück für Stück mehr in mir integrieren kann – um voller zu leben und zu lieben. Oft schmerzhaft, aber trotzdem OK. Zum Jahreswechsel kam das ANGST-Monster emporgekrochen. Rohe, nackte, präverbale Angst aus frühen Phasen meines Lebens, die jetzt beheimatet werden möchte. Damit mir 2025 nicht langweilig wird 🙂
Die Entdeckung von Essence Love lässt mich aber fühlen, dass es OK ist. Dass daran nichts falsch ist und dass hinter den Wolken seit jeher die Sonne scheint. Dass sie nie aufgehört hat zu scheinen und nie aufhören wird. Und dass Liebe nicht das Gegenteil von Angst ist, sondern dass Liebe endlos viel Platz hat für Angst … und dass sich Angst dann von selbst erlöst und verwandelt – in Lebendigkeit zum Beispiel.
Ich kann wirklich aus vollem Herzen sagen. Im Jahr 2024 war ich so glücklich wie noch nie zuvor in meinem Leben. Nur fühlt sich Glück jetzt anders an als früher.
Es hat sich also bestätigt, was ich schon letztes Jahr in meinem Brief geschrieben habe: Persönliche Entfaltung bzw. therapeutische Prozesse und spirituelle Entwicklung gehen am besten Hand in Hand. Das hab ich heuer auch bei meinem einwöchigen Meditationsretreat (inkl. Schweigen) erfahren dürfen. Meditation & Innere Arbeit – eingebettet in die Natur als Lehrer – begleitet von den Elementen Erde, Wasser, Feuer & Luft, waren ein richtig gutes Biotop für inneres Wachstum. Das ist etwas, das ich dieses Jahr im Mai für 2 Wochen wiederholen werde.
Ganz generell möchte ich im nächsten Jahr in meiner Praxisarbeit mehr Fokus darauf richten, Meditation als Entwicklungsraum zu nutzen. Eine meine früheren Lehrerinnen Rosina Sonnenschmidt hat schon immer gesagt: “Heilung findet (neben den Erfahrungen mit dem Therapeuten) vor allem zu Hause statt”.
Deswegen bin ich gerade dabei, kurze Meditationen aufzunehmen, die solche Entwicklungen gut vorbereiten, vertiefen und integrieren können. Im ersten Halbjahr wird es dazu ev. auch ein paar Abendveranstaltungen geben (ich hoffe sehr, dass ich das schaffe – stay tuned).
Einen Online-Kurs, den es jetzt schon gibt und den ich euch besonders ans Herz legen kann, heißt FULLY BEING und stammt von einem meiner – oben schon erwähnten – Lehrer Tsoknyi Rinpoche. Ein Jahr regelmäßige Arbeit mit diesem Kurs, und die Beziehung zu deinen beautiful monsters wird sich grundlegend verändern.
WEGWEISER ZU ESSENCE LOVE
Hier 4 Punkte die mich in den letzten 2 Jahren näher zu Essence Love gebracht haben:
* Psychotherapie – embodied & deeply relational
* Psychedelika / MDMA – gut begleitet & vorbereitet
* Meditation – auf Basis von Körperbewusstsein & Fühlen
* Bewusste Beziehungspraxis – mit Menschen die das auch wollen
Meine wichtigsten Bücher im letzten Jahr um diese Reise zu unterstützen
- Why we meditate / Meditieren – Tsoknyi Rinpoche & Daniel Goleman
- Awakening the Heart I & II – Reginald Ray (Audible Course)
- Radical Acceptance / Mit dem Herzen eines Buddha – Tara Brach
- Trusting the Gold / Lass den goldenen Buddha in Dir strahlen – Tara Brach
- Shift Into Freedom / Reise ins Erwachen – Loch Kelly
- Mindful Glimpses App – Loch Kelly
- The Mindful Self Compassion Workbook – Neff / Germer
- Self Compassion – Dr- Kristin Neff
- The Wakeful Body – Willa Blythe Baker
- Healing with Entactogens – Torsten Pass
- Attunded / Die heilsame Kraft unserer Beziehungen – Thomas Hübl
- Polyamory – Martha Kauppi (eher für Therapeutinnen)
- The Practice of Embodying Emotions / Verkörperte Gefühle – Raja Selvam (eher für Therapeutinnen)
Die Bücher sind teilweise sehr schlecht aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt – also wenn immer es geht, würde ich das Original lesen.
Schöpferische Workshop-Pause 2025 & Training 2026
Nachdem die Entscheidung gefallen ist, dass es von meinem ERET-Training keine Fortsetzung geben wird, bin ich seitdem in eine schöpferische Workshop-Pause gefallen. Hier meine Pläne wie es weitergehen wird:
- Derzeit sind für 2025 nur 2 Webinare zum Thema MDMA-Therapie & Psychedlika-Therapie, sowie die daran anschließenden Online-Abende zum Vorbereiten, Vertiefen & Integrieren von erweiterten Bewusstseinszuständen geplant. Infos dazu gibt es dann bei den zwei Webinaren.
- Darüberhinaus werde ich im September ein privates Retreat auf Arillas / Korfu anbieten.
- Im Jahr 2026 wird es dann wieder eine offene Workshopreihe geben. Der vorläufige Arbeitstitel dafür ist Love & Space.
I AM NOT ALONE
Abschließend möchte ich nur noch sagen, dass nicht nur Körperbewusstsein, emotionale Kompetenz, Selbstmitgefühl oder Meditation mir wertvolle Wegweiser sind, sondern auch die Praxis und Pflege authentischer menschlicher Begegnungen und Beziehungen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin. Ich danke allen Menschen, die mir im Jahr 2024 dabei geholfen haben, durch ihre Liebe, Unterstützung und tiefe Momente (und manchmal auch ein wenig Verstrickung 😊) ein Netz aus Freundschaft & erlebter Verbundenheit zu knüpfen, in das ich mich immer mehr fallen lassen kann.
ICH DANKE EUCH FÜR EUER DA-SEIN 😊
IN LIEBE,
MANUEL
Karin Pichler
14. Januar 2025 @ 12:26
Lieber Manuel,
danke, dass du dich wieder hingesetzt und die, deine Essenz des vergangenen Jahres für uns auf den Punkt gebracht hast! So spannend diese Einblicke und deine Entwicklungen, wie wunderbar zu erfahren, dass du in unserer oft rauen Alltagswelt so viele tiefe Glücksmomente erleben konntest!
Mich persönlich spricht, ja, springt die Wassertherapie total an…ich spüre sofort ein starkes Gefühl der allumfassenden Geborgenheit, wenn ich das hier lese von dir.
Der Punkt “Beziehungspraxis“ würde mich natürlich näher interessieren, was du damit konkret meinst-oder was du da unternommen hast.
Wie schön, wenn wir uns herumschnuppernd, offen und übend weiterentwickeln, ja wenn wir so lebendig sind und immer mehr unseren eigenen Weg finden-trotz des dichten Waldes um uns herum!