Der Todpunkt der ERziehung als Chance für BEziehung

Ich scheue mich normalerweise davor, über etwas zu schreiben, das in mir noch nicht ganz “ausgegoren” ist.
Doch es beschäftigt mich.
Ich bin damit unausweichlich konfrontiert.
Das Universum drückt es mir quasi direkt auf die Nase.
Also SCHEISS DRAUF. Ich schreibs einfach.

Jetzt wo ich die ersten Worte tippe, kommt es mir vor wie eine Art Deja-vu. Ich war vor etwas mehr als einem Jahr schon mal an dem Punkt an dem ich jetzt stehe. Aber ich hab das Gefühl, dass ich diesmal dort noch tiefer spüre, wie elementar und radikal die Erkenntnisse sind, die sich gerade wie Stacheln in meine Haut und in mein Herz bohren.

Es geht um den Unterschied zwischen ERziehung & BEziehung

Mit meinem jetzt fast 17jährigen Erstgeborenen erlebe ich zum zweitem Mal in meinem Leben massiv, dass alle Versuche, ihn erziehen zu wollen, kläglich zum Scheitern verurteilt sind. Ja ich wage gerade sogar zu denken, dass ich in den Momenten in denen ich dachte ihn erziehen zu können, einer Illusion aufgesessen bin.

Ich bin in der Beziehung zu meinem Sohn gerade mit seiner ungeheuren Aggression konfrontiert. Dadurch bin ich mit meiner eigenen Aggression konfrontiert. Und dadurch wiederum mit dem unterschiedlichen Aggressionsverhalten meiner Eltern, in ihrem damaligen Versuch mich zu erziehen.

Es wäre verlockend die Schuld dafür irgendwo hinzuschieben. Auf meinen Sohn. Auf mein mangelhaftes Vater-Sein. Auf mögliche schlechte Einflüsse des Umfeldes. Auf die Pubertät. Auf das Erziehungsverhalten meiner Eltern mir gegenüber.

Aber das wäre mir – selbst wenn einiges oder alles davon zutrifft – zu kurz gegriffen. Ich möchte heute einen anderen Punkt herausstreichen:
Ich möchte den Schwarzen Peter unserem kollektiven Verständnis von ERziehung an sich geben und unserem Unvermögen & unserem Unwissen wie BEziehung funktioniert.

Der Wolf im Schafspelz

Denn selbst wenn ich und viele Eltern die ich kenne, in den letzten Jahren so einige kluge Erziehungsratgeber gelesen haben, die die letzten 2 Jahrzehnte wie Pilze aus dem Boden geschossen sind (über gewaltfreie Erziehung & Kommunikation, über Konsequenzen statt Strafen, über liebevolle Grenzen etc.) so muss ich sagen, dass ich selten erlebt habe, dass dieses Wissen von Eltern wirklich verkörpert wird.

Und so kommt es, dass in gewaltfreien Worten dann doch elterliche Gewalt steckt, dass Konsequenzen zu gut getarnten Strafen mutieren und die liebevollen Grenzen nur so lange liebevoll bleiben, die Eltern gerade wieder die nächste Überforderungswelle einholt.

In Wahrheit erziehen wir kollektiv gesehen noch immer mit folgenden “Goldstandards”:

  • Kritik & Schimpfen
  • Drohungen (wenn Du nicht aufräumst, dann wirst Du heute nichts zum Naschen bekommen)
  • Bestrafungen (“na dann muss ich Dir deine Playstation wegnehmen”)
  • Beschämung & Beschuldigung
  • emotionale Kontrolle & Manipulation (“dann ist Mama / Papa traurig”)
  • Rechthaberei & Überzeugen
  • Sarkasmus, Zynismus & Nicht-Ernst-Nehmen (“na das hast Du wieder toll gemacht”)
  • Liebesentzug: körperlich oder innerlich abwenden, schweigen, ignorieren, Nichtbeachtung von Bedürfnissen

Wir “modernen” Eltern wollen alle nicht so erziehen – und doch tun wir es nach wie vor. Nicht mehr so offensiv und rigoros wie unsere Großeltern- oder Elterngeneration. Wir machen es subtiler, geschickter und maskierter.

Ich zumindest hab es getan und war mir dessen oft nicht einmal bewusst. Und wenn es mir bewusst war, dann hab ich mir oft nicht anders zu helfen gewusst. Mir fehlten die Pläne oder die Ideen – geschweige denn deren Verkörperung. Wir können nicht verkörpern, was wir selbst nicht erlebt haben. Der Punkt an dem die Ratschläge aus dem Erziehungsratgeber flöten gehen, ist genau der Punkt, an dem wir mit ERziehung an Grenzen stoßen und den Sprung in die BEziehung nicht schaffen. Das ist auch dem geschuldet, dass wir in diesem Momenten oft die Beziehung zu uns selbst verlieren. Wir sind dann überfordert, emotional taub oder entgleist und nicht mehr reguliert. Und aus so einem Zustand heraus wollen wir dann Beziehung mit einem – ebenfalls unregulierten – Kind herstellen?! Dabei muss ich jetzt fast lachen … über dieses Vorhaben das von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Wir laden uns dann die Aggression oder anderen Reaktionen unserer Kinder ja förmlich ein.

Erziehung ist der Tod von Erwachsenen-Beziehungen

Vielleicht geht es ja nur mir so?!
NEIN. Das glaube ich nicht. Beziehungsweise weiß ich, das dem nicht so ist. 

Und das weiß ich deswegen, weil ich in den letzten Jahren intensiver mit Paaren arbeite. Bei der Begleitung von Paaren wird schnell sichtbar, wie diese miteinander umgehen, wenn es zu Konflikten kommt. Und in genau diesen Momenten wird die Paar-Beziehung zum Versuch der Partner-ERziehung – mit genau dem Waffenarsenal aus obiger Liste.

Ebenso tun wir es bei der Arbeit, im Schulwesen (zum Glück entstehen gerade auch Schulen die es anders machen – siehe zB www.lila.school) und überall dort, wo eigentlich Beziehung stattfinden sollte.

Beispiele von Erziehung unter Erwachsenen

Wie kann man nur so ….. sein wie Du? (Kritik)
Wenn Du nicht … dann … ! (Drohung)
An deiner Stelle würd ich mich schämen. (Beschämung)
DU hast angefangen. (Schuldzuweiung)
NA das hast Du wieder mal toll hingekriegt. (Sarkasmus)
Sehr ihr wie schnell er die Fassung verliert? (Beschämung)
Wie kannst Du mir nur so weh tun?  (emotionale Manipulation)
Jetzt mach nicht so ein Drama draus! (Abwertung)
Also alle anderen sagen auch, dass sie nicht verstehen dass Du … (Rechthaberei)
Dann mach das doch von jetzt an allein. (Rückzug)
Ich spreche erst wieder mit Dir, wenn Du Dich entschuldigst (Erpressung mit Liebesentzug)
Dann hol Dir deinen Sex in Zukunst wo anders. (körperlicher Liebes-Entzug)
Na dann sehen wir mal, wer das länger aushält. (Drohung)
Du wirst schon sehen ,was Du davon hast (Drohung)

Das alles tun wir, um die Kontrolle in Beziehungen (wieder) zu erlangen oder zu behalten und merken dabei nicht, dass wir Gewalt ausüben. Wir wollen unsere PartnerInnen dadurch wieder in die “Spur” kriegen. Wir haben dafür auch genug gute Rechtfertigungen, Ausreden und Erklärungen am Start.

Wir tun dann das mit unseren PartnerInnen, was unsere Eltern mit uns getan haben. Zumindest ähnliches. Und merken es nicht. Oder wollen es nicht zugeben. Und trotzdem passiert es tagtäglich. Und je bewusster und sozial kompetenter sich Menschen in ihrem Selbstbild sehen und fühlen wollen, desto geschickter verstecken sie es meist.

Wie geht Beziehung?

Wie also hören wir auf, unsere Kinder, PartnerInnen oder MitarbeiterInnen zu ERrziehen und fangen an uns mehr zu BEziehen?

  • Der derzeit wohl erste und wichtigste Schritt wäre meiner Meinung nach, uns einzugestehen, dass wir gesellschafltich und meist auch individuell diesbezüglich noch in den Babyschuhen stecken. Dass wir das noch nicht wirklich wissen & können und das gerade erst lernen und ausprobieren müssen. Dass wir diesbezüglich Pioniere sind. Das nimmt den Druck raus.
  • Danach können wir anfangen uns zu fragen, wo genau eigentlich die Punkte in unserem Leben sind, an denen wir echten Kontakt & Beziehung vermeiden, indem wir anfangen, sie entweder zu unseren Gunsten zu manipulieren oder aus ihr rausgehen. Was sind deine äußeren Trigger und woraus besteht der innere, biografisch fruchtbare Boden auf die sie fallen?
  • Des weiteren wäre wichtig, den Raum für einen gewaltigen Mindshift aufzumachen. Raum für die Bewusstheit und Akzeptanz darüber, dass ich keine anderen Menschen kontrollieren kann. Zumindest nicht, ohne ihnen in ihrer Potentialentfaltung zu schaden. Wir können Einfluss nehmen – und das tun wir eigentlich ständig – egal ob wir es beachsichtigen oder nicht, aber wir können das Ergebnis nicht kontrollieren. Denn das wäre dann Gewalt. Und genau diese Gewalt ist in unseren Erziehungssystemen immanent. Dieser strukturellen Gewalt gilt es sich bewusst zu werden und andere Wege zu finden.

Hinwendung zum ICH, DU & WIR

Dazu braucht es eine ganze Menge Hinwendung zum ICH im Sinne von Selbstverantwortung. Ich darf lernen, Verantwortung für meine emotionalen Reaktionen & Handlungen zu übernehmen. Dafür braucht es die Aufarbeitung unserer Entwicklungstraumen und unserer individuellen Geschichte.

Gleichzeitig braucht es eine Hinwendung zum DU, denn dann erst entsteht Beziehung. Und erst in Beziehung werden unsere Wunden aus unseren früheren ERziehungen und BEziehungen sichtbar. Beziehungen sind sozusagen der Raum, in dem diese Wunden heilen können. Manchmal macht man das am Besten mit kompetenter Begleitung – mit jemandem der während eurer Beziehungsoperation schaut, dass der Raum sicher und sauber bleibt und sich die offene Wunde nicht infizieren kann. Für mich ist Paartherapie einer der schnellsten und effektivsten Wege der individuellen Entwicklung.

Und dann braucht es noch die Hinwendung zum WIR. Wir müssen diese gemeinsame Entwicklung in Beziehungen aus dem Privaten herausholen und einbetten in größere soziale Kontexte. Es braucht im besten Fall die Unterstützung von Gruppen, Gemeinschaften & Kreisen, in denen sich der / die Einzelne und das Paar fallen lassen können. Wo sie aufgefangen werden und Rückhalt, Feedback, Akzeptanz und Verständnis bekommen. Wo man vielleicht auch eine gemeinsame Übungspraxis entwickelt. So wie ein gemeinschaftliches Beziehungs-Dojo* (* japanische Bezeichnung für den Trainingsraum von Kampfkünsten).

Die Erde hat diese Schritte dringend notwendig. Die größten Probleme auf diesem Planeten – wie Umweltzerstörung, Klimakrise, Hunger, Kriege, Ausbeutung etc sind nichts anderes als Auswüchse der strukturellen ERziehungs-Gewalt und Mangel an gesunder BEziehung.

Zurück zum Anfang der Geschichte

Um am Ende den Kreis zu meiner eigenen Situation zu schließen:
Ich komm drauf, dass egal welche der weiter oben angeführten Erziehungsmaßnahmen ich bei meinem Sohn versuche zu setzen – es würde ihn nicht verändern. Zumindest nicht zum Guten – nämlich hin zu seiner Potentialentfaltung.

Auch wenn mein System im Stresssituationen mit ihm immer noch instinktiv danach sucht, die Kontrolle zurückzugewinnen – es ist zwecklos.

Auch wenn er mir manchmal seine Wut und seine Beschimpfungen ins Gesicht brüllt und ich dann zurückschreie, ihm drohen oder ihn strafen will – es macht keinen Sinn.

Auch wenn ich noch so oft versuche, erzieherisch mit ihm zu reden – er hat alles von mir schon 1000x Mal gehört und es gibt nichts was er nicht es schon selber weiß. Wir sollten endlich mal kapieren, dass es meist nicht daran liegt, dass unsere Jugendlichen uns nicht verstehen, sondern sie schlicht und einfach nicht tun wollen, was wir von ihnen wollen.

So lange sich Kinder, Jugendliche oder Erwachsene noch aus Angst oder Scham heraus in die Anpassung manipulieren oder zwingen lassen, so lange können wir an der Illusion festhalten, dass wir die Kontrolle hätten und sie als liebevolle Einflussnahme tarnen. Wenn dieser Mensch aber Zugang zu seiner Wutkraft bekommt, bereit ist Opfer zu bringen und alles für seine Selbstbestimmung zu riskieren … in diesem Moment hat Erziehung ausgedient. Und an diesem Punkt stehe ich gerade.

Jetzt muss ich Verantwortung übernehmen für meine Gefühle & Gedanken:

Denn es ist meine Angst um sein Leben.
Es sind meine Vorstellungen von dem was für ihn gut wäre.
Es ist meine Schwierigkeit mit Aggression und Wut umzugehen.
Es ist meine Ohnmacht, die ich dann fühle.
Es ist meine Vater-Sohn-Geschichte die mein Verhalten manchmal limitiert.

Jetzt muss ich Verantwortung übernehmen für das Herstellen echter Beziehung:

Es fühlt sich gerade an wie ein schmerzlicher Abschied von der Illusion der Kontrolle. Noch schmerzt auch der Kopf vom Anrennen gegen die Erziehungs-Sackgasse. Aber genau darin liegt gerade meine Chance. Die Chance für meinen Sohn. Und in solchen Situationen liegt für uns ALLE die Chance. Die Chance sich dem zuzuwenden, was wir vielleicht schon unser ganzen Leben vermeiden. ECHTE BEZIEHUNG. Es braucht Mut diesen Weg einzuschlagen. Aber es ist an der Zeit. Nicht nur für mich, weil mein Sohn fast 17 ist. Auch kollektiv gesehen müssen wir diesen Sprung machen, wenn die Welt gesunden soll.

Danke fürs Lesen, 
Euer Manuel 

Hinweis:
Wer jetzt denkt, dass ich ein Erziehungsanarchist bin, der möge bitte nochmal zwischen den Zeilen lesen. Was ich versuche kritisch zu hinterfragen, ist nicht das verantwortungsvolle Begleiten von Kindern und Jugendlichen an sich, sondern unser kulturelles Verständnis von Erziehung und die gängige Praxis.

Empfehlungen:
* alles von Gerald Hüther
* alles von Jesper Juul (von dem gibt es auch ein Buch mit dem bezeichnenden Titel “Aus Erziehung wird Beziehung”)
* Ein Buch zur Evolution unserer Kultur des Miteinanders:
“Wenn wir wieder wahrnehmen” (Heike Pourian)
* eine Schule in der BEziehung bewusst am Lehrplan steht: www.lila.school

 

 
 
 
 
 
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