Von der sexuellen Revolution zur sexuellen Evolution
Von einer befreiteren Sexualität zum erfüllenderen Sex
Die sexuelle REVOlution in den 60ern hat im Hinblick auf Moral, Tabus, oder Rollenbilder, zu einem wichtigen Wandel im Denken geführt und den Boden für den nächsten Schritt bereitet – für die sexuelle EVOlution. Es ist der Schritt von einer befreiteren Sexualität – hin zum erfüllenderen Sex. Dieser Schritt hat nicht eine befreitere Denkweise im Fokus, sondern das befreitere und vertiefte Erleben im sexuellen Akt an sich. Eine Hinwendung zu einer Art von Sexualität die nicht nur GEIL macht – sondern auch HEIL.
Der Artikel beschreibt – stark vereinfacht – vor allem ein kollektives Phänomen. Es ist also gut möglich, dass Du Dich als Einzelwesen mit deiner persönlichen Biografie und Erfahrung nicht in meinen Beschreibungen wiederfindest. Dann gehörst Du zu den glücklichen Ausnahmen, die ja bekanntlich die Regel bestätigen.
Zuerst ist es wichtig, kurz die Begriffe Revolution & Evolution zu unterscheiden.
Eine Revolution ist im Allgemeinen eine plötzliche Neuentwicklung, durch die alles Bestehende mit einem Schlag umgewälzt wird – ein struktureller Wandel eines Systems, der meist abrupt oder in relativ kurzer Zeit erfolgt. Evolution hingegen ist ist eine langsamere, stetige “Aus-wickelung”, also “Ent-wicklung”, bei der etwas freigelegt, wird, das im Inneren als Möglichkeit vorhanden war. Evolution geschieht nach und nach und baut immer auf dem vorhergehenden Schritt auf.
Die Wichtigkeit der Sexuellen Revolution …
Die Sexuelle Revolution in den 60er Jahren war wichtig, weil sie mit vielen alten Anschauungen, Dogmen und Moralvorstellungen radikal gebrochen hat und die Möglichkeit anderer sexueller Lebens- und Liebesmodelle aus Subkulturen heraus, überhaupt erst ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gebracht hat. Neue geistige Horizonte haben sich aufgetan und viele Errungenschaften bewirkt oder begünstigt, die wir heute für selbstverständlich halten. (Wenn Du einer jüngeren Generation angehörst, und nicht genau weißt, wovon ich gerade schreibe, dann wäre es spätestens jetzt eine gute Zeit für etwas autodidakten Geschichtsunterricht). Wenn man auch über die Nachhaltigkeit dieser Entwicklung streiten kann oder über ein paar ihrer unsinnigen Auswüchse – so kann man rückblickend doch letztlich nur die Wichtigkeit dieser Bewegung anerkennen.
… und wichtige Versäumnisse
Was jedoch bis zum heutigen Tag gewaltig hinterherhinkt, ist die Integration dieser Entwicklung. Denn obwohl spätestens seit dieser Zeit vielen klar ist, dass Sex nicht nur zur Produktion von Kindern dient, dass Selbstbefriedigung nicht zu Rückenmarksleiden oder gar in die Hölle führt, die Entwicklung der Pille zur Trennung von Sexualität und Empfängnis beitrug, es seit dieser Zeit Sexualerziehung in Schulen gibt, und sich Menschen auch gleichgeschlechtlich vergnügen dürfen, hat dieses „mehr an Freiheit“ nicht zwingend zu einer größeren Erfüllung geführt. Es hat sich insgesamt verändert, wie wir Sexualität LEBEN, aber nicht grundlegend, wie wir Sexualität ER-LEBEN.
Befriedigt – aber unerfüllt
In meiner Praxis erlebe ich tagtäglich Frauen – aber auch Männer – die unzufrieden mit der Art und Weise sind, wie sie Sexualität erleben. Entweder ist die Welle der sexuellen Revolution noch gar nicht in den Schlafzimmern angekommen – und Moral, Tabus oder fehlendes Sexualwissen schränken nach wie vor die erotische Ausdrucksfähigkeit ein – oder es fehlt der Sprung ins Meer der sexuellen Evolution. Das kann dann so Aussehen, dass trotz intensiver, ausgefallener und frei gelebter Sexpraktiken das Gefühl zurückbleibt, in schalem und lauem Erleben gefangen zu sein. Es fehlt die Lebendigkeit, das Gefühl von tiefen Kontakt und Beziehung. Der Sexualität fehlt die Intimität. Selbst wenn die so heiß ersehnten Gipfel der Orgasmen erklommen werden, bleibt oftmals ein Gefühl von Leere zurück und einer unerfüllten Sehnsucht nach mehr – so dass sich die Frage einschleicht „Ist das wirklich alles? Gibt es da wirklich nicht mehr?“
Die hoffnungsvolle Antwort: Doch – es gibt mehr. Aber dieses MEHR wird nur durch WENIGER erreicht. Der Schritt vorwärts, ist ein scheinbarer Schritt zurück.
Ein Schritt zurück um vorwärts zu gehen
… von der Wut und Expressivität der Revolution zur Sensitivität und Berührbarkeit die darunter liegt
… von freien Ausdrucksräumen – zu sicheren ERLEBNISräumen
… vom Nein zu einer gesellschftlichen Moral hin zu einem JA das aus uns selbst kommt – aus den tiefen unseres Körpers und unseres Herzens
… von neuen Bildern im Kopf – hin zum Empfinden im Körper
… von Aufregung & Erregung – hin zu Entspannung & subtiler Feinheit der Empfindung
… vom Orgasmus hin zum orgastischen Sein.
Schneller, Höher … Tiefer
Während die Welle der 60er eine Antwort auf die totalitären Zeiten der Jahrzehnte davor war, erleben wir heute feinere Zwänge die unser sexuelles Erleben prägen. Es ist nicht mehr so sehr gewaltsame Unterdrückung unter der wir leiden, sondern das Diktat des „Schneller, Höher & Weiter“ einer kapitalistischen Gesellschaft. Der Stress eines Lebenstempos, welches uns zu hoch ist und der Verlust von natürlichem Lebensrhythmus der verhindert, dass wir voller Leben pulsieren. Zu viele Wahlmöglichkeiten in der Weite einer globalisierten Gesellschaft in der wir uns schnell verlieren können, ohne einen Anker in der Tiefe unseres Erlebens zu finden.
„Das Schlimmste daran, dass wir Schnelligkeit als die Antwort auf Komplexität verwenden ist, dass wir sehr bald nichts mehr anderes wahrnehmen als das, das mit der selben Geschwindigkeit reist, wie wir. Das innere, ewige, schöpferische Selbst – ursprünglicher Einwohner des Raumes in dem Zeit nicht existiert, wird der größte Fremde von allen.
– David Whyte –
Das Wesen der sexuellen Evolution
Die sexuelle Evolution erfordert, dass wir unsere Vorstellungen von gutem oder richtigem Sex loslassen und vom Piloten des Geistes auf den Autopiloten unseres Körpers umschalten. Sie erfordert, dass wir wieder lernen der Weisheit unseres Körpers zu vertrauen und wirklich in ihm verankert zu sein. Sie erfordert, dass wir aufhören, den Gipfeln der Orgasmen nachzujagen und damit anfangen, sowohl Berge als auch Täler unseres sinnlichen Empfindens zu genießen. Sie erfordert, dass wir Sex nicht ausschließlich als erregendes Abenteuer auffassen, sondern als Möglichkeit, sich mit einem Partner zu entspannen und einfach nur zu SEIN. Sie erfordert, dass wir bereit sind, nach all unserem bemühten Tun auch einfach mal still zu sein. Was dann passiert ist, dass wir wie nach einem Stein den wir ins Wasser geworfen haben, das Ausbreiten der Ringe in uns beobachten und vor allem spüren können, die dabei entstehen. Maßstab für evolutionären Sex ist nicht nur das Erleben während des Aktes – sondern vor allem das Gefühl welches sich danach in uns einstellt. In der sexuellen Evolution, sind nicht jene mit den größten Schwänze und Titten die Sieger – aber auch nicht jene mit der besten Technik … sondern jene Männer und Frauen, deren Genitalien und Körper am empfindungsfähigsten sind (und die mit deren offenen Herzen und deren freien Gedanken kommunizieren).
Die sexuelle Matrix
Und ich kann den vielen Frauen, Männern und Paaren die das nicht so erleben, nicht einmal einen Vorwurf machen, denn wir alle sind in einer „Sexuellen Matrix“ – wie sie meine Kollegin Ilan Stephani in ihrem Buch nennt – groß geworden, die uns andere Werte und Maßstäbe vermittelt hat. Ich könnte es niemals besser beschreiben als Ilan selbst in ihren eigenen Worten:
„Wir bewohnen nicht das Feld aller sexuellen Möglichkeiten sondern nur unseren eigenen sexuellen Horizont. Einen Horizont der sich definiert durch unsere Kultur, die Filme und Medien die uns umgeben – durch die Wunden und Traumata, die Fragen und Erfahrungen, die Ängste und Sehnsüchte, die ganz und gar privat sind – und jene die wir mit allen anderen teilen.
Erst wenn wir wirklich gute Liebhaber geworden sind, werden wir mit der großen sexuellen Unsitte unserer Kultur aufhören: Wir werden aufhören uns mit mittelmäßigem Sex zu begnügen. Und wir werden niemals mehr damit zufrieden sein, im Puff aneinander vorbeizuvögeln….
Wirklich guter Sex bemisst sich nicht an Leistung oder Performance, sondern einzig und allein an unserem Erleben. Wirklich guter Sex macht uns glücklich. Er überrascht uns mit einem Gefühl von Leben, Kontakt und Begeisterung, größer als das, was wir schon kennen.“
(Ilan Stephani – aus ihrem Buch „Lieb & Teuer”)
Erwachen aus der Matrix
Wie lernen wir also aus der Matrix zu erwachen – so wie Neo im gleichnamigen Filmklassiker? (UNBEDINGT ansehen wenn Du den Film nicht kennst!). Wir brauchen Menschen wie Morpheus – die uns daran erinnern, welches Feld der Möglichkeiten es eigentlich zu bewohnen gibt. Es braucht eine Arbeit an unserer Beziehungsfähigkeit. Im ersten Schritt ist es die Beziehung zum eigenen Körper. Dadurch werden wir empfindungsfähiger und kommen wieder mehr in Kontakt mit unserer Inneren Stimme – unserem inneren GPS. Das erleichtert den tieferen und intimeren Kontakt mit anderen Menschen, die uns dann wiederum dabei unterstützen können, mit uns selbst besser in Kontakt zu sein.
Viele Wege aber nur eine Richtung – nach vorn
1) Um Deinen Körper zu erwecken und Dich besser zu spüren, kannst Du mit einer achtsamen Körperpraxis beginnen wie Yoga, Qi Gong, Tai Chi, Kampfkunst oder anderem. Wichtig ist dabei nicht so sehr WAS Du tust – als viel mehr WIE du es tust. Du kannst Dir regelmäßig Massage oder Körperarbeit gönnen – wie Nuad, Shiatsu, Tantramassage, Lomi Lomi Nui, Grinberg und viele mehr, die deine Empfindungsfähigkeit erhöhen können – einen qualifizierten und passenden Praktiker vorausgesetzt.
2) Du kannst Dich mit Tantra und anderen kreativen und körperorientierten Ansätzen von Intimität & Sexualität beschäftigen, um – wie Ilan es sagt – ein guter Liebhaber / eine gute Liebhaberin zu werden. Und zwar nicht um Deinen Partner besser zu befriedigen – sondern Dich selbst sexuell mehr zu erfühlen /erfüllen. Fang mit einem guten Buch an, gönne Dir einen passenden Online-Kurs den Du im eigenen Tempo zu Hause durchgehen kannst, oder besuche einen Workshop bei dem Du Neues lernst und erlebst.
3) Du kannst Dir einen Coach, Lebens- und Sozialberater, Psychotherapeuten, Sexualtherapeuten oder Paartherapeuten suchen, der mit Dir an deiner Beziehungsfähigkeit arbeitet.
Grundlegende Zutaten
Egal was Du tust – die wichtigsten Zutaten sind immer die Grundsätze, die auch meine Arbeit prägen – Langsamkeit, Don´t push the river – it flows by itself und das richtige Maß zwischen Spannung & Entspannung.
Elementare Erfahrungsräume für die Sexuelle Evolution
Ob Revolution oder Evolution – wenn Du jemanden suchst, mit dem Du neue sinnliche Räume öffnen kannst um aus der herkömmlichen, sexuellen Matrix herauszuwachsen oder besser gesagt herauszuerwachen, dann freu ich mich wenn ich Dich an ein paar neue Türen führen darf – durchgehen musst Du dann eh selbst. Ob der sichere Raum der verkörperten Erfahrung im Element Erde, Hingabe & Heilung im Fließen des Wassers, Intensität & Lust im flackernden Feuer oder Inspiration & Spiel in der Freiheit des Luftraums – es sind in jeden Fall diese elementaren Erfahrungen, die den Weg der sexuellen Evolution pflastern – während Du ihn gehst.
Luisa Lilli Herrlich
5. April 2018 @ 20:48
Wow, einer der besten Blogartikel, den ich seit langem gelesen habe. Es trifft das Gefühl, dass ich seit Monaten habe und versuche zu ergründen, auf den Punkt! Langsam ist das neue Schnell. Hin zu mehr spüren, wahrnehmen und empfinden. Danke für diesen wundervollen Beitrag <3! Luisa
Manuel Harand
6. April 2018 @ 11:45
Vielen Dank Luisa – dein Kommentar zaubert mir ein riesiges Lächeln ins Gesicht … DANKE DAFÜR!
Bernhard Reicher
6. April 2018 @ 18:00
Ein wunderschöner, wichtiger, wertschätzender und ermutigender Artikel! Vielen Dank, Manuel!
Manuel Harand
6. April 2018 @ 22:36
Diese Worte aus deinem Mund ehren mich Bernhard – ehrlich … Vielen Dank und Alles Liebe, Manuel
Christine
8. April 2018 @ 18:34
Lieber Manuel!
Herzlichen Dank für deinen Beitrag. Seit der Massage von dir und meiner “neuen Liebe” spüre ich meinen Körper viel besser und bin sehr glücklich und ausgeglichen. Meiner “neuen Liebe” geht es auch sehr gut. Wir genießen jede Minute unseres Zusammenseins. Dein Artikel bestärkt mich genauso wie bisher weiterzumachen.
Liebe Grüße Christine
Manuel Harand
10. April 2018 @ 13:12
Das freut mich TOTAL Christine … schön dass Du auf Deine Innere Stimme gehört hast. Ich wünsch Euch weiterhin ALLES ALLES GUTE, Manuel