Warum Männer weinen

Berufung & Beziehung – Grundkoordinaten für ein erfülltes Leben


Fühl Dich kurz in folgende Situation ein:

Du bist ein 33jähriger Profi-Tennisspieler, der schon 13 Jahre auf der ATP-Tour spielt – ohne jemals ein Turnier gewonnen zu haben. Du bist in dieser Zeit aber verdammt oft knapp dran gewesen und hast bereits 5x im Finale verloren. Bei einem Turnier in der brütend heißen australischen Hitze bist du krank und schreibst Dich eigentlich innerlich ab. Bereits in der ersten Runde hast Du Matchball gegen Dich … schaffst es aber trotzdem irgendwie zurückzufighten und gewinnst dann nicht nur die nächste Runde … sondern nach einer verrückten Woche sogar das ganze Turnier. Dein allererstes. Dann hältst Du am Platz die Siegesrede.
Was bringt Dich dort zum Weinen? (sieh selbst – das Video dauert nur 2min)

Der Dank an seinen Coach, der Blick hinauf zu seinen Kindern und seiner Frau – mit denen er diese Stunde des Triumphes, in der die jahrelange Anspannung mit einem Moment plötzlich völlig abfällt, teilen kann. Das ist Beziehung.

Und genau das ist es im Kern, was auch viele andere Männer zum Weinen bringt. Genauer gesagt ist es der „Innere Mann“, der vor Erleichterung weint. Der Innere Mann, den auch jede Frau in ihrem Wesen beherbergt. Es ist Beziehungslosigkeit oder fehlende Beziehungstiefe, die ihn – meist völlig unbewusst – quält, es ist die Sehnsucht danach, die ihn antreibt und der Moment der ihn erfüllt, wenn er sie erlebt. 

In diesem Artikel möchte ich auf die Verbindung von Erfolg & Erfüllung bzw. Berufung & Beziehung eingehen. Einige Impulse dazu stammen aus dem hervorragenden Buch “I don´t want to talk about it” von Terry Real, in der man viele der Ideen aus meinem Artikel fundiert begründet findet – für alle die sich in dieses Thema mehr vertiefen wollen. Die meisten meiner Erfahrung aus der Praxis, decken sich mit den Ausführungen des Autors – obwohl meine sehr sanfte therapeutische Herangehensweise sich deutlich von seinem eher konfrontativen Stil unterscheidet. 

Der Club der Männer

Trotz Veränderungen in den Rollenbildern in den letzten Jahrzehnten, werden wir als Frau und Mann in unserer Gesellschaft noch immer nach ganz bestimmten Mustern sozialisiert. Ein Abschnitt in einem Buch von Terry Real hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er schreibt, dass eine Frau in unserer Welt – ab einem bestimmten Alter – automatisch eine Frau ist. Ein Mann jedoch muss zum Mann werden. Er muss etwas dafür tun. Und mehr noch als das. Er muss sich ständig beweisen. Denn Mann-Sein kann Dir vom „Club der Männer“ wieder aberkannt werden, wenn Du nicht nach den Regeln “schneller, höher und weiter” spielst – und dann stehst Du alleine da.

„If a man is not a winner, he is a loser. And the cost of losing is more than just a game at hand; it is abandonment.“
(Terry Real)

Tun vs. Sein

Wir Männer sind immer im TUN. Und auch die Frauen die nach den Regeln einer Männer-dominierten Welt spielen. So wichtig der Kampf um Gleichberechtigung in den letzten Jahrzehnten auch war und soviele wichtige Errungenschaften er den Frauen bis jetzt auch gebracht hat – im Kern hat er bis heute ständig das eigentliche Ziel verfehlt. OK – Frauen dürfen heute auch in den „Club“ – ja wir haben sogar Gesetze die besagen, dass manche Bereiche dieses Clubs zu 50% von Frauen besetzt werden müssen. Hat die Mehrheit der Frauen jedoch schon mal ernsthaft hinterfragt, ob sie diesem Club überhaupt beitreten wollen, wenn das heißt, dass Du am Eingang – beim Türsteher – nahezu alle Eigenschaften Deiner Inneren Frau abgeben musst (egal ob Du Frau oder Mann bist) – sprich Deine Sensitivität, Deine Berührbarkeit, Deine Verletzlichkeit, Deine Intuition, Deinen Fähigkeit zum kreativen Chaos, deine Zartheit, Weichheit und all deine fließenden Qualitäten. Deine Fähigkeit zur Stille und einfach zu SEIN. Haben sie jemals das Kleingedruckte gelesen?

Darum sind wir in dieser Gesellschaft ständig alle im TUN. Wir haben keine Ahnung mehr, wie es sich anfühlt, einfach zu SEIN. In Beziehung zu sein.

  • Erfüllung zu spüren, statt Erfolg zu schaffen.
  • Die Rastplätze zu genießen, statt ständig mit dem Aufstieg beschäftigt zu sein.
  • Sich zu emotional zu nähren, statt sich materiell hochzuarbeiten.
  • Kräfte zu sammeln, statt sich ständig zu verausgaben.

Die Jagd nach dem Gipfel & ihre Folgen

Versteht mich bitte nicht falsch. Ich bin der Letzte der etwas gegen das Streben nach Erfolg hat. Im Gegenteil – ich strebe selbst extrem leidenschaftlich nach „oben“, gehe meinen Träumen nach, arbeite viel und hart, jage meinen Zielen hinterher und besteige immer wieder neue Gipfel meiner Möglichkeiten.

Doch selbst wenn ich oder Du dort oben ankommen. Was dann? Wie lange dauert deine Freude und Erfüllung an? Wie sehr hast Du die Fähigkeit ausgebildet, Dich von Deinem Erfolg nähren zu lassen und ihn in jeder Zelle zu spüren. Wie lang schaffst du es dann Pause zu machen? Wie viele tiefe Verbindungen spürst Du – zu Dir selbst, zu anderen Menschen, zur Natur, zu „Gott“ bzw zu einer sonstigen mystischen Kraft die Dich zum Staunen bringt – die über Dich hinausgeht? Mit wem kannst Du deinen Erfolg langfristig teilen und wer freut sich wirklich mit Dir?

Wie traurig, als ich letztens eine Doku über Extrembergsteiger gesehen habe. Wie unausgewogen das Verhältnis war – zwischen jahrelangen Strapazen und Qualen und dem verschwindend kurzen Moment, den Gipfel auszukosten. Obwohl von „Auskosten“ und Genuss dort gar nicht die Rede sein konnte – angesichts des körperlichen Zustandes in dem sie dort oben ankamen, bevor schon nach wenigen Minuten sofort wieder die Qual des Abstiegs begann. Wie sehr sah ich in dieser realen Geschichte eine Metapher für das Leben vieler Menschen in unserer Zeit. Etwas nachzujagen, dass ich dann – wenn es endlich eingetreten ist – gar nicht wirklich genießen kann.

Wie ist es mit dem Mann, der sich Ewigkeiten in der Firma hochgearbeitet hat und dann endlich ganz oben steht. Ein Moment des Innehaltens. Der auf Fokus gedrillte Blick weitet sich plötzlich. Was sieht dieser Mann? Was denkt er?

„Ist da jemand?“ (… ist da jemand – ist da jemaaaaaand?)- Gut möglich, dass er nichts und niemanden sieht. Weil er alle Beziehungen dem Erreichen seines Zieles untergeordnet hat und niemand da ist, mit dem er in der Tiefe verbunden ist. Er hat vielleicht die Beziehung zu sich selbst geopfert, zu seinen Kinder, seiner Frau. Was ist Erfolg, wenn ich ihn mit niemandem teilen kann? In jedem Märchen, jeder Heldenreise kommt der Held nach seinen Abenteuern wieder zurück in die Gemeinschaft die er verlassen hat – oder er findet bzw. kreiert eine Neue. Er kommt zurück in eine Gemeinschaft, um seine Geschichte zu teilen und damit Andere an seinen Erfahrungen teilhaben zu lassen. Nicht nur er wurde dann verwandelt sondern auch die, die mit ihm in Verbindung stehen.

Ich selbst bin keine Ausnahme

Wie oft ist es mir schon passiert, dass ich wie ein Verrückter an meinen Projekten gearbeitet habe, die ich aus ganzen Herzen liebte, die mich inspirierten und die mich Nächte durchmachen ließen. Und dann wenn ich entweder fertig war, oder mein ausgebrannter Körper mich zur Ruhe zwang … der Blick auf meine Kinder … meine Frau … und die feminineren Seiten meiner selbst … die plötzliche Erkenntnis, wie wenig Bewusstheit ich in dieser Zeit meinen Beziehungen gewidmet hatte … und SCHEISSE … ich habe es nicht mal bemerkt wie lange ich „abwesend“ war. Wie gut habe ich gelernt, mich abzulenken von meinem Bedürfnis nach dem SEIN in Beziehung. Nach stiller Präsenz, Frieden, Ankommen oder Geborgenheit-Geben und -Empfangen. In solchen Momenten fließen dann oft Tränen des Bedauerns … bekommen Einsichten Raum, die vorher einfach nicht genug Zeit bekommen haben. Aus Gesprächen mit anderen Männern (und Frauen) weiß ich, dass es vielen nicht anders geht als mir.

Gerade wir Männer sind Meister darin, uns abzulenken und den Kontakt zu unserer weiblichen Seite zu kompensieren – durch Arbeit, Sport, Sex, Alkohol, fahrbare Untersätze oder technische Spielereien. Unser „Erfolg“ ist oft auf einem Stahlbetonbunker errichtet worden, in dem unsere Innere Frau ein einsames Dasein fristet. Doch auch der Innere Mann fühlt sich ähnlich – denn er ist nicht ganz – ohne seinen archetypischen Gegenpart. Die beiden brauchen sich gegenseitig.

Erfolg – neu definiert

Das Wort Erfolg sollte eigentlich so definiert sein, dass es nur dann ein Erfolg ist, wenn ich den Gipfel nicht allein erreiche, sondern mit meiner selbst gewählten Seilschaft. Erfolg sollte immer Erfüllung beinhalten – eingebettet in und getragen von nährenden Beziehungen – der Beziehung zu sich selbst, der Beziehung zu anderen Menschen, denen wir uns nahe und verbunden fühlen, und der Beziehung zur Natur, zum ganzen Universum und der Kraft, die es geschaffen hat – wie immer die auch für uns persönlich aussehen mag. Wenn wir Erfolg so definieren, dann gibt es keine Ausbeutung mehr, keine Kriege, keine Zerstörung der Umwelt, den wir haben dann realisiert, dass wir nicht nur im Netz dieses Lebens stehen, sondern dass wir selbst ein Knoten im Netz des Lebens sind. Dann entsteht natürlicherweise Dankbarkeit – nicht als Gebot – sondern aus der tiefen Realisation unserer Verbundenheit. Dann ist da Liebe. Und die – und dabei bin ich mir sicher – spürte Gilles Muller, als er seine Siegesrede hielt. Und es war letztlich Liebe, die in Form von Tränen aus ihm herausfloss.

Die Balance von Berufung & Beziehung

Wir brauchen also die Beziehung zu uns selbst, zu unserem „Lebenszweck“, unserem höchsten Sinn und Potential, unserer „Berufung“, um diese dann in Beziehung zu bringen und in Beziehung zu leben. Wir müssen unser ureigenes Lied in uns spüren.

„Vü vü schöner is des Gfühl wann i a Liad gspia in mia. Vü Vü wärmer als die Sun mi wärmen kann … is ma dann.“
(Rainhard Fendrich)

Wir können Erfüllung an dem Ort finden, an dem sich Berufung und Beziehung treffen.

In der Vertikalen finden wir unsere höhere Bestimmung und Absicht. Hier fin- den wir Inspiration und das Feuer das unser Leben antreibt. In der Horizontalen knüpfen wir Verbindungen, schaffen eine Basis und kreieren Felder, um dieses Feuer auf die Erde zu bringen, es zu verkörpern und unser Licht weiterzugeben. Ohne Beziehung und Verbindung haben wir keine Möglichkeit unsere Inspiration uns unsere Geschenke an die Welt zu geben. Und ohne Inspiration und Leidenschaft sind unsere Beziehungen und Verbindungen sinnentleert und ohne Leben.

Quo vadis?

Dieses Thema ist viel zu komplex, zu existentiell und zu individuell, um jetzt am Schluss des Artikels eine halbherzige „5 steps how to …“ – Anleitung zu schreiben. Nur soviel … es gibt ein sehr gutes Buch von Jorge Bucay – einem Gestalttherapeuten – welches folgenden Titel trägt:

 3 Fragen – Wer bin ich? Wohin gehe ich? Und mit wem?

Er sagt, dass das die Grundsatzfragen sind, die jeder von uns GENAU in dieser Reihenfolge beantworten muss. Dem stimme ich grundsätzlich voll zu. Mit dem Zusatz, dass wenn wir Beziehungen nicht nur als Unterstützungs- sondern auch als Wachstumsfelder begreifen, in der täglichen wahrhaftigen Auseinandersetzung mit unseren Beziehungen oft viel klarer wird, wer wir sind und wohin wir gehen sollen (Berufung) … was wiederum zu mehr Klarheit führt, mit wem ich den weiteren Weg bestreiten mag (Beziehung). So führt uns die Verbindung von Berufung und Beziehung immer mehr zu uns selbst und letztlich sogar über uns selbst hinaus – zur Essenz unseres Lebens. Und die ist in ihrem Wesen nichts anderes als reine Liebe. Und wenn wir die in unserer Tiefe spüren, dann wissen wir warum Männer (& Frauen) weinen.

Weiterführende Tipps:

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