Brotkrumen der Wahrhaftigkeit

Honesty …

…  is such a lonely word
Everyone is so untrue
Honesty is hardly ever heard
And mostly what I need from you
(Billy Joel)

Mehr als 40 Jahre meines Lebens mussten verstreichen, um gerüstet genug dafür zu sein, mich einem zentralen Thema meines Lebens zu stellen.

Ehrlichkeit & Wahrhaftigkeit

Hätte man mich vor ein paar Monaten noch gefragt, welchen Platz Ehrlichkeit auf meiner Werteskala eingenommen hätte … sie hätte es bestimmt nicht unter die TOP 10 geschafft – aus gutem Grund.

Denn Ehrlichkeit war für mich oftmals gleichbedeutend mit Konfrontation, Konflikt, Verurteilung und Beziehungsabbruch. Für jüngere (Kind-)Anteile in mir fühl(t)en sich diese unangenehmen Nebenwirkungen der Ehrlichkeit sehr dramatisch an. Am Ende der Straße gelangte ich nach Wahrheit und dem damit verbundenen Konflikt dann irgendwann bei der Endstation Einsamkeit, Trauer und totaler Isolation an. Zumindest erlebte es mein Unbewusstes bis jetzt so.

Darum hab ich über viele Jahre eine Strategie entwickelt – nämlich die, einer umgänglichen Harmonie-Maske, unter der ich die Fähigkeit nahezu perfektioniert habe, zu erspüren, was andere von mir sehen und haben wollen und ihnen das in höchster Qualität zu liefern. Der beste Weg, um im Außen immer in Verbundenheit zu sein. Die anderen Teile von mir, habe ich in Schubladen gepackt und gut versteckt …. bis ich selbst vergessen habe, dass manche dieser Seiten in mir existieren und gelebt werden wollen.

Unehrlichkeit als “spannendes” Eigentor

Das Lügen bzw Unterschlagen von Informationen in verschiedenen Beziehungen hat über die Jahre und Jahrzehnte aber eine Spannung in mir aufgebaut, die immer dickere Mauern brauchte, um die Schattenkräfte dahinter in Schach zu halten. Das führte immer mehr zu einem Gefühl der Trennung und Einsamkeit – welches ich ja paradoxerweise durch meine Strategie eigentlich aufs Verrecken vermeiden wollte. Tja – sowas nennt mal wohl ein Eigentor.

„Jedes mal wenn ich unehrlich bin, dann merk ich ja, dass ich mich von mir ein bisschen entfernen muss. Ich muss mich kontrahieren, um das aufrecht zu erhalten. Das heißt es entsteht Spannung und es entsteht Trennung. Ich trenne mich von mir selbst ab, und ich fühle mich von den Menschen getrennt, mit denen ich diese Dynamik aufrecht erhalte. Ich muss mich distanzieren. Ich bin nicht mehr in der ursprünglichen Intimität mit mir selbst und mit dem Leben. … Das ist so als würde ich mit einem Sonnenschirm im Licht sitzen, und sagen ‘wo ist denn das Licht?’ Die Sonne ist ja da, aber wenn ich da hochschaue, mit einem starken Sonnenschirm, ist hier Schatten. Obwohl ich in der Sonne sitze, sitze ich im Schatten.”

(frei zitiert aus einem Online-Kurs des spirituellen Lehrers Thomas Hübl)

Erst wenn man merkt, dass Ehrlichkeit nicht Bestandteil eines äußeren Verhaltenskodex oder einer Moral ist, die befolgt werden muss oder soll, sondern eine innere Notwendigkeit um frei und ohne schweres Gepäck leben zu können, macht es Sinn, sie mehr ins Leben zu integrieren und sie zu einer Leitlinie seiner EIGENEN Ethik zu machen.

Die fühlbare Wahrheit in sich zu unterdrücken, ist die schlimmste Form von Untreue die es gibt
(Albert Schweitzer)

Der Schlüssel zu mehr Ehrlichkeit & Authentizität für mich war bis jetzt:

  • das Spüren meiner inneren Gespaltenheit und Isolation
  • das bewusste Wahrnehmen der Teile, die ein Schattendasein fristen mussten und das Lauschen auf ihre Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsüchte
  • das bewusste Spüren der jüngeren, „traumatisierten“ Anteile in mir und das Wahrnehmen ihrer Ängste, ihrer Ohnmacht – aber auch ihrer Kreativität im Entwickeln einer Überlebensstrategie
  • das Übernehmen voller Verantwortung für meine Entscheidungen und meine Fehler als Erwachsener auf der einen Seite – und ein liebevolles Verständnis dafür, dass das Kind in mir bis jetzt nicht anders konnte, auf der anderen Seite

Die schrittweise Übernahme von Verantwortung und das Spüren der Überforderung meines Inneren Kindes erfordert ein Spüren von Schmerz – jenseits einer Geschichte.
Das tut weh.
Sehr weh.

Dass uns unsere unauthentischen Handlungen wehtun, ist wichtig. Weil … wenn wir uns vom Leben entfernen, dann tut das weh. Wenn wir nicht spüren, dass uns Unwahrheit weh tut, dann ist das bedenklich. Sind wir in Verbindung mit uns, ist da Intimität. Trennen wir uns von unserer Wahrhaftigkeit, sind wir scheinbar noch in Beziehung, aber in Wirklichkeit sind wir schon nicht mehr ganz in Beziehung. Die Wiederherstellung von Beziehung ist ein ganz unangenehmer Prozess. Er bedingt das “Sich zeigen” mit dem was nicht wahrhaftig war. Das beinhaltet das Fühlen von unangenehmen Gefühlen – das Erfahren von Scham oder Schuld. Das ist das Wiederherstellung der Intimität
(nochmal Thomas Hübl aus dem selben Kurs)

Es gibt einen weiteren Punkt, der es für mich möglich gemacht hat, Stück für Stück mehr aus mir herauszukommen und mich mehr zu zeigen. Diesem Punkt möchte ich besondere Aufmerksamkeit widmen:

Ein verurteilungfreier Raum

Symbiose & Autonomie sind zwei menschliche Grundbedürfnisse. Ich würde sogar sagen, dass es die zwei elementaren menschlichen Grundbedürfnissen sind. Wahre Autonomie erfordert Mut und das Übernehmen von Verantwortung für den eigenen Lebensweg und ein authentisches Sein. Weil aber auf der anderen Seite auch konstruktive Symbiose unabdingbar für unser Überleben ist, brauchen wir die Gewissheit, nicht aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden, wenn wir auf unserem Weg der Ehrlichkeit voranschreiten.

Nach oft jahre- oder jahrzehntelangem Verstecken und Flüchten, brauchen diese „Flüchtlinge“ – also diejenigen Seiten in uns, die in den Schatten oder Untergrund gedrängt wurden – eine Garantie für freies Geleit und eine sichere Rückkehr in ihre Heimat.

Nicht die berühmten „Glaubenssätze“ haben eine Prägung in uns angelegt. Nein – die vielen Glaubenssätze in uns, sind eine Folge von Erlebnissen und Erfahrungen die wir – zumindest in unserem Inneren – irgendwann einmal in unserem Leben gemacht haben. Um etwas tiefgreifend in uns zu verändern, braucht es neue Erfahrungen, aus denen neue konstruktivere, passendere Spuren in unseren Gehirnen und Nervensystemen angelegt werden können.

Das heißt, dass es neben dem Mut, sich mit dem Schmerz und der Angst und der Scham auseinanderzusetzen, die entsteht, wenn wir uns anderen Menschen in unserer Ganzheit zumuten und mehr von uns zeigen, als wir bis jetzt zu zeigen wagten, auch etwas anderes braucht. Nämlich ein Gegenüber im Außen, welches auch wirklich mehr von dieser Ganzheit sehen und wissen will und damit in einer Art und Weise umgehen kann, die es für uns sicher genug macht, um zumindest nicht retraumatisiert zu werden. Einen Raum in dem wir die Erfahrung machen können autonom und dabei dennoch in Verbindung (gesunder Symbiose) zu sein.

Praxisbeispiele

Immer wieder erlebe ich in meiner Praxis in Paarcoachings folgende Szene:

Einer der Partner fordert (oft schon seit Jahren) vehement ein, dass sich ihr Mann oder seine Frau mehr zeigt und einfach (endlich mal!!!) total ehrlich ist. In einem Anflug von kleinem Heldentum und im Schutz der sicheren Praxis-Atmosphäre kommt dann dieser Mensch schließlich ein Stück aus sich heraus und legt eine dieser unbequemen Wahrheiten auf dem Tisch.

Was dann (oft) passiert ist eine Variation folgender Reaktion:

Die Augen des einfordernden Partners füllen sich zuerst kurz mit Überraschung, dann mit Unverständnis, die Körpersprache zeigt Wut, Kälte oder Distanz … bis sich dann früher oder später Worte finden:

„Wie kann man nur so …… sein. Ich weiß gar nicht warum ich überhaupt mit einem Menschen wie Dir in einer Beziehung bin. Du bist einfach nur ….. . Das ist sowas von …… Am liebsten würde ich ….. . Du bist wie dein Vater / deine Mutter. Es ist sowieso am Besten, wir beenden das alles … usw …. usw … usw“

oder

„Ich glaub Dir kein Wort. Du machst Dir was vor. Das kommt alles aus deinem Kopf – denn ich kann das grad nicht spüren was Du da sagst. Das kommt nicht an in meinem Herzen. Das ist wieder mal nicht authentisch, was Du da von Dir gibst.“

Dann fällt mein Blick wieder auf den anderen Partner. Das was sich zuerst gerade noch in ihm / ihr aufgerichtet hatte, um sich zu zeigen, zieht sich wieder in sich zusammen. Davor eine dicke Mauer mit der Aufschrift: „ICH komm da sicher NIE wieder hervor. Probiers in 100 Jahren wieder.“

Im ersten Beispiel geht das Gegenüber ins Unverständnis, in die Verurteilung und „das in den Raum stellen“ des Beziehungsabbruches innerhalb einer emotional geladenen Atmosphäre. Im zweiten Fall spricht das Gegenüber dem Partner die Authentizität seiner Wahrheit ab und kann den Partner nicht spüren (oftmals weil er / sie diese Wahrheit nicht spüren WILL)

In beiden Fällen ist die Beziehung unterbrochen. Im ersten Fall durch emotionale Hitze. Im zweiten Fall durch emotionale Kälte. In der Praxissituation bin ich in diesem Fall der Container, der helfen kann, durch gewisse Interventionen, das Ausgesprochene, Gefühlte und Gezeigte doch noch für beide Seiten zu integrieren. In den eigenen 4 Wänden, neigt so eine Geschichte eher zur hitzigen Eskalation oder zum eisigen Einfrieren.

Ehrlichkeit – will ich das WIRKLICH?!

Mir ist es schon seit Jahren ein Bedürfnis, das mal auszusprechen:
Es gibt viele Menschen, die Ehrlichkeit einfordern, aber sich dessen nicht bewusst sind, dass nicht nur ihr Partner damit überfordert ist, sondern dass auch sie selbst überfordert sind – im Angesicht der Wahrheit. Sie wollen Ehrlichkeit – aber eigentlich nicht wirklich. Sie wünschen sich Wahrheit – aber nur wenn diese – zumindest ein bißchen – so aussieht, wie man sie sich gewünscht hat.

Darum ein paar Fragen an all jene, die sich mehr Ehrlichkeit in ihrer Beziehung wünschen:

  • Will ich wirklich wirklich ALLES wissen?
  • Kann und möchte ich auch die schmerzhafteste Wahrheit aushalten?
  • Will auch ICH mich mit den traumatisierten Teilen in mir auseinandersetzen und meinen Schatten ins Gesicht sehen?
  • Kann ich meine Gefühle fühlen und ausdrücken – ohne durch meine Worte oder Taten zu verletzen und kaputt zu machen?
  • Kann ich Racheimpulse unter Kontrolle halten?
  • Kann sich mein Gegenüber sicher sein, dass ich nicht mit Eskalation, Manipulation oder Drohungen eines Beziehungsabbruches reagiere. Möchte ich es zumindest lernen und tu ich mein Bestes dafür?
  • Hab ich genug Hilfe, um aufgefangen zu werden. Hab ich mich auch schon mal nach professioneller Hilfe umgesehen?

Was es braucht, wenn ich es will

Eine wirklich ehrliche Beziehung ist nicht für jeden Menschen da draußen. Denn sie setzt voraus, dass ich bereit bin, mir ins Gesicht zu sehen und zu entdecken wer ich wirklich bin. Das ist manchmal so furchtbar oder so schön, dass es kaum auszuhalten ist. Auf diesem Weg werde ich unweigerlich meinen Traumen begegnen und ziemlich wahrscheinlich auch die Traumen meines Partners triggern. Das braucht ein Umfeld, in dem ich damit gut aufgefangen bin – und unter Umständen hin und wieder auch professionelle Hilfe – als Einzelperson oder als Paar. Es braucht die Fähigkeit, meine Wahrheit auf eine eingestimmte und liebevolle Art und Weise auszudrücken – genauso wie die Fähigkeit, mit der Wahrheit meines Partners, auf eine respektvolle Art und Weise umzugehen.

Es braucht unsere Fähigkeit, uns selbst nach unseren eigenen Werten und Maßstäben – in aller Klarheit und aller Liebe – zu beurteilen und dieses Urteil als Richtschnur unseres Lebens zu verwenden. Und es braucht die Fähigkeit, die Wahrheit unserer Mitmenschen in einem verurteilungsfreien Raum willkommen zu heißen – in einer Art und Weise in der DU Dir wünscht, mit DEINER Wahrheit bei anderen willkommen zu sein.

Du kannst heute schon damit beginnen so ein Raum zu SEIN.
BE the Change you wish to see in the world.

Falls Du das Gefühl hast, in deiner Beziehung dabei Unterstützung zu brauchen, einen Raum zu kreieren, in dem ihr beide wahrhaftiger miteinander sein könnt, dann freu ich mich über Deine Nachricht

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